Eine gemischte Tüte, bitte! Definitionsschwierigkeiten

Photo: Roman Hagenbrock


Verständnisschwierigkeiten. Wenn in freundschaftlicher Geselligkeit von den wildesten Liebeleien erzählt wird und dann der Extra-Hinweis fällt: „…und dann hatten wir auch Sex“. Huch! Und was war das viele andere, das ihr miteinander angestellt habt?

Penetration

Eigentlich ist es ein Klassiker: wo beginnt Sexualität und wo hört sie auf? Gemeinhin bezieht sich der Begriff exklusiv auf den penetrativen Akt. Das überrascht vor allem, wenn es sich bei den Gesprächspart•nerinnen um Menschen handelt, die Sexualität sonst in ihrer Vielfalt zelebrieren und sich auf diverse Experimente, Techniken, Spiele und Lüste einlassen, die jenseits der heteronormativen Zwangsmatrix liegen. Mit der Bezeichnung ‚Sex = Penetration‘ gehen freilich Unmengen an Unklarheiten einher. Es stellt Fragen nach Treue, Eifersucht und Grenzübertritten. Es exkludiert bestimmte Praktiken der LGBTQIA+-Communities. Es lädt den Moment ‚Penis in Vagina‘ – oder kontrasexueller ausgedrückt: ‚Dildo in Loch‘ – ungemein bedeutungsschwanger auf und normiert diese eigentlich uneinfallsreiche und naturalistisch anmutende Praktik, die Sexualität an die Funktion der Reproduktion koppelt.

Was macht Sex aus? Gibt es sowas wie ‚Sex-Sex‘ und ‚Nicht-Sex-Sex‘ oder ‚eigentlichen-´ und ‚uneigentlichen Sex‘? Wie macht die Unterscheidung von ‚Vorspiel‘ und ‚Sex‘ überhaupt noch Sinn, wenn man keinen teleologischen Begriff von Sex hat? Und auf welche Darstellungs- und Repräsentionsformen von Sex einigen wir uns dann? Wo zeigen sich die vielen Spielformen, die auch zum Bereich ‚Sex‘ zählen könnten, ohne, dass es dabei um Genitalsex geht? Und was sind die Marker, die durch die Inszenierung dann ein Genre (z. B. Pornografie) markieren?

Präsentation

Diese Schwierigkeiten zeigen sich besonders auffällig im Mainstreamfilm. Bekannt sind natürlich die frustrierenden, banalen oder auch genialen Sublimierungen, wenn plötzlich auf einen durch einen Tunnel fahrenden Zug geschnitten wird oder die Kamera just in dem Moment, in dem es spannend wird, auf die Gardine schwenkt (ein Phänomen, das Daniel Bickermann in seinem Plädoyer für mehr Sex auf der Leinwand beschrieben hat: „Ich saß im Kino, schaute Pretty Woman, und Richard Gere war nach einem Blowjob vor dem Fernseher und ein bißchen romantischem Klaviergeklimper in der Hotellobby endlich drauf und dran, im gemeinsamen Zimmer Julia Roberts zu verführen – da rutschte plötzlich ein hölzernes Verzierungsgitter vors Bild. Man kann sich mein Entsetzen angesichts dieses amateurhaften Kamerafehlers sicher vorstellen: War denn niemandem aufgefallen, daß da volle dreißig Sekunden lang nichts mehr zu erkennen war?  […] schließlich gibt es tausend gute Gründe, Sexszenen zu zeigen. Bleiben wir doch mal bei Pretty Woman: Da nimmt ein vom Leben gelangweilter Firmenspekulant eine Straßennutte ran. Mir will doch wohl keiner erzählen, daß es nicht wichtig wäre, was der mit ihr so macht, wie das abläuft, wem das Spaß macht und wer dabei die Initiative hat? Gute Sexszenen erzählen oft mehr über die Figuren als ihre dramatischsten Dialoge.“)

Variation

Ab und an wird man von ausgefallenen Darstellungen des Sexus überrascht, die zuwendend und fürsorglich einfangen, was sonst durch die Maschen eines penetrativ verstandenen Sex-Begriffs fällt. Eine paradigmatische Szene findet sich in der US-amerikanischen Comedy-Serie Broad City, in welcher wir Teil davon sein dürfen, wie sich zwei junge Frauen, Ilana und Abbi, durch den bizarren, albernen, verstörenden und liebreizenden Alltag New Yorks navigieren. In der Folge ‚B&B-NYC‘ schleppt Ilana den NBA-Basketballspieler Blake Griffin ab, mit dem Ziel eine heiße Nacht mit ihm zu verbringen, die jedoch ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringt und schließlich dazu führt, dass aus der Not eine mindblowing Tugend gemacht wird. Aufgrund Griffins überdimensionalem Geschlecht ist den beiden der penetrative Geschlechtsakt versagt. Ein Glück, da erst dank dieser Unmöglichkeit fintenreich nach neuen Möglichkeiten der Intimität gesucht wird, die uns Zuschau•erinnen eine herrlich bunt gemischte Tüte einer Sexszene beschert. In schneller Schnittfolge zeigt sich uns, was Sex noch alles sein kann: der Basketballspieler sitzt  nackt (beide sind eigentlich während aller Szenen nackt) mit ausgebreiteten Armen auf dem Bett und Ilana leckt einmal ausdauernd von der einen Armspanne bis zur anderen, während sein Gesicht in pornöser Manier den Ausdruck von Geilheit trägt; Ilana genießt während einer gemeinsamen Acro-Yoga-Übung das Gefühl zu fliegen; Blake Griffin trägt Ilana, die zusammengebündelt in ein Laken gewickelt hysterisch heult, beruhigend durch das Zimmer, als würde er einen Säugling trösten; beide sitzen mit elegant überschlagenen Beinen auf Sesseln und schlürfen ganz ‚britisch‘ Tee; auf dem Boden einander gegenüber sitzend spielen sie das typische Fingerkloppe-Schulhofspiel – Griffin jubiliert, die gezwiebelte Ilana leidet und er wendet sich ihr tröstend zu; beide stretchen sich einander an den Armen haltend und meditativ tief atmend; sie reitet auf seinem Rücken wie auf einem Pferd, woraufhin vor allem er verkündet „so close!“, woraufhin Ilana erregt zustimmt, dass auch sie kurz vor ihrem Orgasmus ist. Postkoital sitzen sie dann Pizza mampfend im Bett, jeweils die Schuhe des anderen tragend – eine noch romantischere Version der Aufforderung „call me by your name!“ :–)

 
 

Und hier noch ein wunderbarer Artikel einer Mittlelalter-Historikerin, die die Wurzeln nachzeichnet wie es dazu kam, dass Penis-in-Vagina-Sex als „richtiger“ gültig wurde: http://www.bishuk.com/sex/history-penis-vagina-default-sex/

Und noch eine Liste an Süßigkeiten, die neben Reinstecken noch lecker sind: https://www.bishuk.com/sex/amazing-sex-without-having-sex/

Beata Absalon

Beata erforscht als Kulturwissenschaftlerin “andere Zustände”, wie Gebären, Trauerarbeit, Hysterie, Schlaf, radical happiness & collective (kill-)joy oder sadomasochistische Praktiken. Nachdem sie zunächst untersuchte, wie Seile in aktive Passivität versetzen können – durch Bondage, aber auch im Marionettenspiel oder politischen Aktivismus –, promoviert sie derzeit über erfinderische Formen der Sexualbildung. Ihr theoretisches Interesse speist sich aus der Praxis, da sie sich und andere gerne in ekstatische Zustände versetzt – am liebsten undogmatisch: Flogging mit Lederpeitsche oder einem Bündel taufrischer Minze, Halten mit Seil oder Umarmung, Spielen mit aggressivem Kuscheln oder liebevoller Erniedrigung, Fließenlassen von Wörtern oder Spucke. Zu tun, was aus der Norm und dem Alltäglichen fällt, kann Angst machen und gleichzeitig ungeheuer lustvoll sein. Workshops und Sessions gestaltet Beata als Erfahrungsräume für Grenzwanderungen, auf denen Grenzen überschritten und gefunden werden, vage und wagemutige Phantasien gemeinsam erkundet, ein eigener Stil entstehen darf.

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„Immer dieser eklige Sex“. Zur Lektüre der Rezensionen von Jan Bonnys ‚Wintermärchen‘

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Das Schräge aushalten. Reflexionen nach einem Workshop