Das Schräge aushalten. Reflexionen nach einem Workshop


Behaglichkeit

„Sich wohlfühlen ist keine besondere Qualität“ – erklärte vor vielen Jahren meine Butoh-Tanzlehrerin Anna Barth. Man hätte sie für zynisch halten können, stattdessen ging mir das Herz auf. Wie eine weise Verlockung äußerte der Satz, was man ahnt, aber vergeblich sucht, wenn der Standard an Instagrambildern wie selbstverständlich Wohligkeit zum begehrenswerten Standard erhebt. Mit diesem Satz öffnete sich ein Raum, der gastfreundlich vielfältigen Stimmungen und Gefühlen Zutritt gewährte. Ziel war nicht mehr, ein glückliches Leben zu führen, sondern ein reiches. Beim Tanzen äußerte sich das dann so, dass ich schamlos nicht mehr daran dachte, einen ansehnlichen Gesichtsausdruck zu bewahren, wenn meine Aufgabe gerade darin bestand, zu tanzen, als würde ich aus Wachs bestehen und unter dem Einfluss großer Hitze langsam schmelzen. Und danach musste ich selber schauen, was ich mit dem tue, was diese Übung mit mir gemacht hat. Einfach funktional verwerten konnte ich sie nicht, aber auf keinen Fall wollte ich sie missen.
Den Satz habe ich mir damals in mein Notizbuch geschrieben. Seitdem ist er immer wieder in Gesprächen gefallen. Auch gestern.

Maßlosigkeit

Gestern war der zweite Teil unseres Orgienworkshops – ein Konzept, zu dem sich noch viele Blogeinträge schreiben lassen; zunächst widme ich mich den Qualitäten, nach denen meine Tanzlehrerin damals fragte.
Der zweite Teil ist der Tag, nachdem die Orgie stattfand und der sich dem gemeinsamen Wieder-Zusammenkommen nach etwas Ereignishaftem widmet, der gemeinsamen Reflexion. Für mich ist immer das der spannendste Teil. Nicht die Orgie ist das Highlight, sondern die Gespräche danach. Durch sie erlebt man das Geschehene noch einmal neu, relativiert eigene Ansichten, fühlt sich in einem vagen Gefühl bestärkt – oder freut sich einfach daran, im Nachhinein durch Erzählungen an dem Teil haben zu dürfen, was man während der Orgie gar nicht mitbekommen hat, weil es irgendwo quietschvergnügt in der anderen Ecke des Raumes stattfand… Nicht zuletzt ist es natürlich inspirierend für die vielen Möglichkeiten, was man bei zukünftigen ähnlichen Ereignissen anders machen könnte.

Merkwürdigkeit

In diesen Runden werden häufig auch solche Vorschläge gemacht, mit denen durch Polieren und Schrauben an den Workshopinhalten, die vor der Orgie als Vorbereitung dienen, möglichst viel von dem ausgeklammert werden will, was als Unwohliges, als Herausforderung wahrgenommen wurde. Zum Beispiel: Zwischen dem Workshop und der Orgie gibt es eine Pause. Das gibt allen noch einmal die Möglichkeit etwas zu essen, zu duschen, und uns die Möglichkeit den Raum vorzubereiten. Das bedeutet natürlich auch, dass es einen Bruch gibt, zwischen den angeleiteten Gruppenübungen und dem aufregenden ‚Event‘. Dann ist man plötzlich auf sich allein gestellt und mit dem Trivialen konfrontiert. Das Warten in der Schlange am Klo. Das verschüchterte sich anlächeln, wenn man vor dem Workshopraum in seinen Lunghi gehüllt noch warten muss, bevor man gemeinsam eintreten darf (vielleicht ein wenig so wie das merkwürdige Gefühl, wenn man mit anderen im Aufzug fährt?). Das Knabbern an den mitgebrachten Gemüsesticks und dabei irgendwie Small Talk halten. Wohin mit sich? Wohin mit den Erwartungen, Gefühlen, Ängsten? Wie die Zeit überbrücken?
Ein anderes Beispiel: die vielen Herausforderungen die das orgiastische Ereignis selber mit sich bringt: darf ich diese Person berühren? Wen berühre ich da überhaupt in der Masse von Menschen? Mag die, wenn ich das jetzt so und so mache – so macht man das doch, oder?
Am nächsten Tag in der Gesprächsrunde berichten einige Personen, was sie besonders Schönes erlebt haben und was aber auch schwierig war, wenn es zum Beispiel als gar nicht so aufregend empfunden wird, an bestimmten Körperstellen berührt zu werden – aber konnte die andere Person ja nicht wissen! Oder, dass es auf Berührungen kein eindeutiges Feedback von der anderen Person gab, ob das nun erwünscht sei oder nicht. Also schlagen einige Teilnehm•erinnen vor, dass man vor der Orgie eine Runde machen könnte, in der jede•r einmal sagt, welche Tabu-Zonen man so hat und was man sich auf der anderen Seite aber auch wünscht.
Und für das erste Problem mit der Pause, wird vorgeschlagen, keine Pause zu machen und Workshopinhalte, wie solche, die sich an Contact Improvisation orientieren, reibungslos in die Orgie münden zu lassen, damit das ganze mehr im Fluss ist und die Pause mit ihrer social akwardnessvermieden wird.
Ja. Das kann man natürlich tun. Das hätte auch seinen eigenen Sinn und ist eine gute Idee. Aber: bewusst haben wir entschieden, das Orgienformat eben nicht so zu gestalten. Warum?

Bequemlichkeit

Ich habe mich wahnsinnig gefreut, dass in der Abschlussrunde Wörter wie „weird“, „schräg“ (← meint ja auch „queer“!), „irritierend“ fallen. Denn ja, genau das ist es. Wie meine Tanzlehrerin sagte, ist es als Kursleiterin nicht mein Ziel, dich easy peasy durch eine bezaubernde, locker flockige Erfahrung zu lotsen. Klar wäre das schön und die Chancen stehen gut, dass du eine Flow-Erfahrung haben wirst, aber das eigentliche Ziel, den saftigen Kern, da wo es spannend wird, wo etwas passiert, wo eine Lernerfahrung steckt, die größer und wichtiger ist als eine schöne Erfahrung – die dann vielleicht aber doch nicht mehr ist als Wellness — das würden wir dann dezidiert umschiffen. Wo wir doch genau da hin aufgebrochen sind; wir wollten doch was erleben. Und natürlich gibt es auch da Grauzonen und es wäre absolut missverstanden, wenn es hier um permanent überfordernde oder traumatisierende Erfahrungen ginge. Mir geht es natürlich nicht darum, dass Fragen rund um Konsens auf die leichte Schulter genommen werden, sondern erstmal nur um ganz einfache Momente: darum, dass man das einfach aushalten muss, dass es merkwürdig ist, in einem Raum mit anderen Menschen sich die Zähne zu putzen, kurz bevor man mit ihnen in einen ekstatischen Rausch fällt. Diese Situationen gehören dazu. Und ich liebe an ihnen, dass sie irgendetwas lehren, was man nicht lehren kann. Dass sie eine Sensation enthalten, die ich als Workshopleiterin eben nicht mehr kuratiere und didaktisch anleite, weil hier, so blöd romantisierend und komisch das auch immer klingt, das Leben an sich was macht.
Bei der Sache mit dem angeleiteten Gesprächskreis zu Wünschen und No-No’s: Das machen wir in unseren anderen Kursen natürlich auch und das birgt eigenes Potential und ermöglicht schöne Räume. Aber auch so ein Workshopmodul hat seine Grenzen und Schwierigkeiten. Deswegen möchten wir hier etwas anderes probieren. Gewissermaßen wird mit der vorherigen Aussprache an Wünschen und Grenzen ja Komplexitätsreduktion betrieben. Es geht davon aus, dass es schwierig ist, wenn zwei (oder mehr!) Menschen sich begegnen, zu wissen, was man miteinander anstellen kann und will. Und das ist auch schwierig. Meiner Erfahrung nach habe ich es aber oft bereut, dass ich gesagt habe, dass mein Bauchnabel sehr empfindlich sei und dann in der Begegnung mein Bauchnabel umso präsenter wurde, weil das dann ist, was meine Spielpart•nerinnen ja jetzt mit mir assoziieren und ich merke, wie sie vor allem vermeiden, meinem Bauchnabel zu nahe zu kommen — weil man möchte ja bloß nix falsch machen! Aber jetzt bin ich irgendwie darauf reduziert und das Abwesende wird paradoxerweise umso anwesender.
Und dann das Problem, dass viele Tabus für mich keine absoluten, sondern relative sind. Ich könnte dann in so einer Runde sagen, dass ich es mag an den Haaren gezogen zu werden. Das Problem ist nur, dass es sich immer anders anfühlt. Und dann zieht mir Person X, die mir was Gutes tun will, an den Haaren und eben mit dieser Person fühlt es sich leider nicht so gut an. Dabei habe ich doch gesagt, dass ich das mag! Die Gründe, warum es sich nicht gut anfühlt, können natürlich viele sein — ein Grund ergibt sich aus solchen Vorschlagrunden: dass ich merke, dass die andere Person gerade eher einen Service bietet, mir was Gutes tun will, ohne ernst zu nehmen, was SIE gerade spannend findet und machen möchte. Und dann machen alle nur noch leicht entfremdete Wunscherfüllung…
Und andersrum beiß ich mir vielleicht in den Arsch, weil ich behauptet habe, dass ich nicht geohrfeigt werden möchte, dabei kommt mit Person Y gerade so die Lust und der Wunsch auf, dass sie es tun würde… gerade jetzt und hier öffnet sich das Fenster, wo ich genau das eben doch spannend finde! Aber wie erklär ich das jetzt? Können wir nochmal so eine Runde machen?

Einzigartigkeit

Immer wieder finde ich Ansätze, die als empowernd und sexpositiv gedeutet werden, weil es in ihnen darum geht, eigene Wünsche, Bedürfnisse und Lüste klar benennen zu können. Und da bin ich ganz für! JA! Nur: Wir sind eben keine Roboter, die in Multiple-Choice-Manier ankreuzen können, was sie mögen und was nicht, und damit hat es sich dann. Weil das nicht ernst nimmt, was für eine höchst einmalige, magische Situation das ist, wenn zwei Menschen (oder noch mehr! – oder nur man alleine – das ist schon komplex genug…) sich begegnen. Und dass man selber immer auch ein•e andere•r sein kann, dass man sich selber überraschen kann. Dass man dachte, Dirty Talk geht gar nicht, aber mit dieser Stimme die die andere Person hat, geht es plötzlich! Und ist großartig! Wow! Hätte ich nie von mir erwartet!

Beherztheit

Und das muss man dann aushandeln, bei so einer Orgie, immer wieder. Die Wunschrunde hätte einen in eine Sicherheit gewogen, die auch ihre suspekten Seiten hat. Und der flüssige Übergang von einer angeleiteten Gruppenübung hinein in die orgiastische Sause ist auch anders, als wenn man aus der Pause, aus dem Sich-erstmal-sammeln-erstmal-ankommen heraus seinen ganzen Mut aufbringen muss, um sich bewusst zu entscheiden: jetzt rolle ich mich auf die Matten-Spielwiese. Was interessiert mich wirklich – jetzt und hier? Was begegnet mir? Was bietet sich an? Folge ich meinen ersten Impulsen und Automatismen oder ergibt sich nicht doch etwas anderes – zuvor nicht geahntes? Was kann ich probieren?  Und so behutsam, mit Respekt vor dem nicht-sicher-Festgelegten, auf die anderen sich zubewegend, handelt man erfinderisch aus, was man nun zusammen erlebt. Und da ist bestimmt so viel mehr und bisher Ungeahntes und Unbeschreibliches möglich, als je in irgendeiner Ankreuzliste oder Wunschrunde geäußert werden oder was wir als Workshopleit•erinnen anmoderieren könnten.

Das Wunderbare ist: welche Funken schlagen, wenn sich in diesem Modus einander begegnet wird und welch herrlich verrückten oder berührend schönen Spiele sich daraus entwickeln, durften wir schon oft in diesem Kurs erleben!

Beata Absalon

Beata erforscht als Kulturwissenschaftlerin “andere Zustände”, wie Gebären, Trauerarbeit, Hysterie, Schlaf, radical happiness & collective (kill-)joy oder sadomasochistische Praktiken. Nachdem sie zunächst untersuchte, wie Seile in aktive Passivität versetzen können – durch Bondage, aber auch im Marionettenspiel oder politischen Aktivismus –, promoviert sie derzeit über erfinderische Formen der Sexualbildung. Ihr theoretisches Interesse speist sich aus der Praxis, da sie sich und andere gerne in ekstatische Zustände versetzt – am liebsten undogmatisch: Flogging mit Lederpeitsche oder einem Bündel taufrischer Minze, Halten mit Seil oder Umarmung, Spielen mit aggressivem Kuscheln oder liebevoller Erniedrigung, Fließenlassen von Wörtern oder Spucke. Zu tun, was aus der Norm und dem Alltäglichen fällt, kann Angst machen und gleichzeitig ungeheuer lustvoll sein. Workshops und Sessions gestaltet Beata als Erfahrungsräume für Grenzwanderungen, auf denen Grenzen überschritten und gefunden werden, vage und wagemutige Phantasien gemeinsam erkundet, ein eigener Stil entstehen darf.

Zurück
Zurück

Eine gemischte Tüte, bitte! Definitionsschwierigkeiten

Weiter
Weiter

Some Thoughts On The Empowering Sensual Objectifications In Contact Improvisation